Reinold Schmücker
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[thesenartige Zusammenfassung meiner kunstphilosophischen Position]

Die Kunst ist nicht autonom. Denn es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß sie prinzipiell nicht im Dienst ihr von außen zugewiesener Zwecke steht. Die Rede von der Autonomie der Kunst ist lediglich eine façon de parler: eine gezielte terminologische Übertreibung, die die relative Unabhängigkeit der Künstler von tradierten Normen und von den Vorgaben von Auftraggebern hervorzuheben vermag. Auch die Herausbildung eines speziellen Kunstmarktes und einer gesellschaftlichen „Institution Kunst“ läßt sich mit Hilfe des Autonomiebegriffs pointieren. Daß sich Kunst generell gegen ihre Indienstnahme für außerkünstlerische Zwecke sperre, gehört dagegen ins Reich der Mythen, die auch durch noch so fleißige Tradierung nicht wahr werden. Gleichwohl ist es rational, daß sich viele Kunstschaffende und viele Akteure des Kunstmarktes zumindest rhetorisch dem Bestreben versperren, Kunst in den Dienst außerkünstlerischer Zwecke zu stellen. Denn die Autonomiethese erfüllt selbst sehr erfolgreich eine ganz bestimmte Funktion: Sie dient - in jeder ihrer Spielarten - der Nobilitierung der Kunst. Die Autonomiethese verleiht der Kunst jenen Nimbus, jene Aura des Besonderen, die etwas schon deshalb als besonders wertvoll erscheinen läßt, weil es ein Kunstwerk ist. Gäbe es die These von der Autonomie der Kunst nicht: die Akteure des Kunstbetriebs müßten sich beeilen, sie zu erfinden, weil sie den Dingen, um die sich der Kunstbetrieb dreht, eine generelle erhöhte Aufmerksamkeit und eine generelle große Wertschätzung sichert, die ganz unabhängig davon ist, wie diese Dinge im einzelnen beschaffen sind, warum im einzelnen sie geschaffen wurden und wie sie im einzelnen auf diejenigen wirken, die sie betrachten, anhören, lesen, zur Aufführung bringen usw. Zugespitzt formuliert: Ihre Rolle als sogenannter weicher Standortfaktor kann die Kunst nur deshalb so erfolgreich spielen, weil es zu dem in unserer Gesellschaft weithin akzeptierten Verständnis von Kunst gehört, daß sie funktionslos ist, daß sie eben keine der Kunst von außen auferlegte Rolle spielt, sondern allein um ihrer selbst willen unser Interesse weckt. Denn es ist dieses mit der Autonomiethese verschwisterte Kunstverständnis, das die Kunst in der Rolle des Standortfaktors so unverdächtig macht. Für viele Mitglieder der Kunstwelt, wie der amerikanische Kunstphilosoph Arthur Danto den Kunstbetrieb genannt hat, ist der Adel, den die Kunst der Autonomiethese verdankt, also überaus lukrativ. Die Medaille der Kunstautonomie hat allerdings eine Kehrseite: sowohl für die Kunst selbst (1) als auch für die Gesellschaft (2).
1. Weil die Kunst weithin als funktionslos, als ihren Zweck allein in sich selbst habend gilt, wird sie per se als wertvoll angesehen. Der Streit darüber, ob ein Kunstobjekt gut ist (und natürlich auch darüber, wie gut es im Vergleich zu anderen Kunstobjekten ist), wird deshalb mit immer geringerem Engagement betrieben. Ablesen läßt sich das zum Beispiel an den meisten Feuilletons: Dort wird wirkliche Kunstkritik, die Werke nicht zuletzt im Hinblick auf ihre Qualität vergleicht und beurteilt, immer stärker durch Interviews mit Künstlern oder durch Zusammenfassungen und Paraphrasen der Selbstkommentare von Künstlern verdrängt - oft auch durch eine (möglichst farbige) Reproduktion. Unter dem Vorzeichen der Autonomiethese ist nämlich wirkliche Kunstkritik kaum mehr möglich: Denn in einem jeden Urteil, das jemand über die besondere Qualität eines bestimmten Kunstwerks trifft, spiegelt sich nicht zuletzt die Auffassung wider, die der Urteilende darüber hat, welche der vielen Funktionen, die Kunstwerke haben können, aber nicht haben müssen, besonders wichtig und welche weniger wichtig sind. Weil Kunstbewertung immer auch Evaluation und Hierarchisierung von Funktionen bedeutet, die Kunst haben kann, lassen sich, wenn man die grundsätzliche Funktionalität der Kunst leugnet, gar keine begründeten Urteile über die Qualität einzelner Kunstwerke fällen. 2. Zumindest in den individualisierten Gesellschaften des sogenannten „Westens“ ist der Streit über die richtigen Wertorientierungen - über diejenigen Wertorientierungen also, an denen die Mitglieder einer Gesellschaft ihre Lebensführung ausrichten sollten - unvermeidlich geworden. Für diesen unvermeidlichen Streit aber gibt uns die Kunst einen besonders geeigneten Anlaß. Denn Kunstwerke sind ein Anlaß für diesen Streit, bei dem wir in der Regel nicht unmittelbar unter Handlungsdruck stehen (sie sind insofern ein relativ unverfänglicher Anlaß), und sie sind meistens ein Anlaß für diesen Streit, der uns die Zuflucht zu simplen Alltagsweisheiten verstellt (sie sind nämlich meistens ein relativ komplexer, nicht auf den ersten Blick zu durchschauender Anlaß). Mit dieser Bedeutung der Kunst als Anlaß zum Streit darüber, von welchen Werten wir wollen, daß sie unser eigenes Leben und die Gesellschaft, in der wir leben, orientieren, hängt die zweite negative Konsequenz der Autonomiethese zusammen: Die Autonomiethese beraubt die Gesellschaft um einen besonders prominenten und besonders geeigneten Anlaß zum Streit darüber, wie wir leben wollen und wie die Gesellschaft geordnet sein soll, in der wir leben. Denn die Meinung, die Kunst sei autonom und um ihrer selbst willen da, läßt uns gar nicht mehr ins Bewußtsein treten, daß der Streit, ob ein bestimmtes Kunstwerk gut oder schlecht ist, insgeheim immer schon die Frage betrifft, wie wir leben wollen und wie die Menschen zusammenleben sollen, und daß der Streit über die Qualität eines Kunstwerks deshalb unverzichtbar ist, weil er diese Frage betrifft, auf die jede moderne Gesellschaft immer wieder neu eine Antwort finden muß.

Literaturhinweise:
R. S., Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998 (UTB 2030). hier bestellen

R. S., Funktionen der Kunst, in: Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, hrsg. v. Bernd Kleimann u. Reinold Schmücker, Darmstadt 2001, 13-29.

R. S., Kunstkritik als demokratischer Prozeß, erscheint im Oktober 2003 in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderband 2003: Kunst und Demokratie, hrsg. v. Ursula Franke u. Josef Früchtl, Hamburg 2003.